Atomare Gespenster vertreiben

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst einer europäischen Atombombe. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wird wieder verstärkt über eine eigenständige nukleare Fähigkeit Europas diskutiert. In jüngster Zeit haben der ehemalige grüne Außenminister Joschka Fischer und der Politikwissenschaftler Herfried Münkler angesichts des Kriegs in der Ukraine und der Gefahr einer Wiederwahl Donald Trumps in den USA die Entwicklung gemeinsamer atomarer Fähigkeiten gefordert.

In Wahrheit handelt es sich jedoch bei der Diskussion über eine europäische Atombombe um eine Pseudo-Debatte, die mit den aktuellen politischen Realitäten nur wenig zu tun hat und seit dem Brexit noch unwahrscheinlicher geworden ist. Die Idee einer EU-Nuklearmacht ist auf absehbare Zeit allein schon deshalb unrealistisch, da derzeit kein europäisches Gremium existiert, welches über die Entscheidungsgewalt einer solchen Waffe verfügen könnte. Sollen etwa Herr Borrell oder Frau von der Leyen Verfügungsgewalt über ein Massenvernichtungsmittel erhalten? Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass Frankreich unter den aktuellen Bedingungen gewillt ist, seine Atomwaffen mit anderen europäischen Hauptstädten zu teilen – erst Recht, wenn Marine le Pen die Wahlen im Jahr 2027 gewinnen sollte.

Geradezu abwegig erscheint in diesem Kontext die Idee Herfried Münklers eines „gemeinsamen Koffer[s] mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert“. Allein die Vorstellung eines atomaren Wanderpokals in den Händen der italienischen Postfaschistin Giorgia Meloni ist ebenso absurd wie gefährlich. Zur Sicherheit Europas würde ein solches nukleares Arrangement jedenfalls nicht beitragen.

Der Westen hat auf das nukleare Säbelrasseln Russlands bislang mit Besonnenheit und Umsicht reagiert. Dies ist nicht zuletzt Olaf Scholz zu verdanken, dem es bei seinem Besuch in Peking im November 2022 gelungen ist, das nukleare Tabu nochmals zu bekräftigen. Europa muss der Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens weiterhin entschieden entgegentreten – zumal es auf unserem Kontinent ohnehin nicht an Atomwaffen mangelt. So verfügen Frankreich und Großbritannien bereits jeweils über 290 und 225 einsatzfähige Atomsprengköpfe. Hinzu kommen noch ca. 100 taktische US-Atomwaffen, die im Rahmen der nuklearen Teilhabe in Europa stationiert sind – unter anderem in Deutschland. Fischer und Münkler übersehen zudem, dass eine europäische Atommacht zur weiteren Erosion des Atomwaffensperrvertrages beitragen würde. Bisher waren die meisten europäischen Länder wichtige Unterstützer einer nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung. Deutschland hat darüber hinaus bei der Wiedervereinigung im Zwei-Plus-Vier-Vertrag seinen Verzicht auf Atomwaffen bekräftigt.

Zweifellos erfordert der Überfall russischer Truppen auf die Ukraine die Verbesserung der europäischen Verteidigungsfähigkeit. Dazu bedarf es aber nicht mehr Atomwaffen, sondern vielmehr größerer Effektivität und engerer Zusammenarbeit und Integration der europäischen Streitkräfte. Zu den Lehren des Ukraine-Kriegs gehört, dass Europa seine konventionellen Fähigkeiten endlich stärker koordinieren und ein gemeinsames Luftverteidigungssystem aufbauen muss. Die European Sky Shield Initiative ist ein gutes Beispiel dafür, wie es gelingen kann, mit konkreter Politik die europäische und transatlantische Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit zu verbessern. Eine solche pragmatische Politik der kleinen Integrationsschritte ebnet bereits heute den Weg hin zu einer echten europäischen Verteidigungsunion.

Es stellt sich ohnehin die Frage nach dem strategischen Mehrwert von Atomwaffen in Europa. So verfügt Russland zwar über das weltweit größte Nukleararsenal und doch ist es Moskau weder gelungen, den Westen mit seiner nuklearen Rhetorik zu erpressen noch die Ukraine in die Knie zu zwingen. Vielmehr muss inzwischen bezweifelt werden, ob Russland in der künftigen multipolaren Weltordnung noch ein eigenständiger Pol sein wird oder sich zunehmend zu einem Vasallen Pekings oder einer „Tankstelle mit Atomwaffen“ entwickelt.

Europas geopolitische Stärke hängt nicht von einer gemeinsamen Atombombe ab, sondern davon, ob es der EU gelingen wird, die Einheit Europas zu vollenden und die richtigen Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu finden: vom Wandel der Wirtschafts- und Arbeitswelt bis hin zur Digitalisierung und dem Klimawandel. Auch die sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts können nicht allein mit militärischen Mitteln beantwortet werden. Wir brauchen ebenso Diplomatie, humanitäre Hilfe und den Versuch, neue Partnerschaften vor allem mit den Ländern des Globalen Südens aufzubauen.

 

Autor: 
Von Rolf Mützenich
Thema: 
Gastbeitrag